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Pleite durch Arbeit

Franz Rieder • Oma’s Küche, Arbeit im Saldo minus       (nicht lektorierter Rohentwurf)   (Last Update: 20.05.2019)

Die Staaten Europas haben zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen nur wenige Flugzeugträger und sind bei den Militärbasen selbst in ihrer Tradition als Kolonialmächte nicht mehr relevant. Sie müssen andere Mittel anwenden. In unserem Zusammenhang erinnern wir daran, dass die Wirtschaftsgeschichte der EU von der EWG an eine politische Entscheidung war, die hauptsächlich zur Friedenssicherung durch gemeinsame Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland initiiert worden waren nach den verheerenden Folgen zweier Weltkriege, die ihren Ausgang in der Mitte Europas hatten.

Die damaligen Ungleichgewichte in den Volkswirtschaften waren solange nicht übernational relevant, solange sie durch Wechselkursanpassungen pariert wurden. Hat in den USA der Dollar und die Kreditwürdigkeit ein Leben der US-Bürger über ihren Verhältnissen ermöglicht, so hatte die Einführung des EURO eine ähnliche Wirkung. Der EURO hatte eine ganze Zeit lang keine großen Auswirkungen auf die Geldmärkte, die im wesentlichen von den nationalen Notenbanken gesteuert wurden. Seit der Einführung der EZB und deren alleiniger Geldmarktpolitik hat sich der EURO den institutionellen wie nicht-institutionellen Investoren als verlockende Währung angeboten und in der Folge dessen einen Kapitalmarkt-Effekt erzeugt, der nicht mehr allein als ein Ergebnis der üblichen Kapitalmarkt-Prozesse bis dato entsprach.

Extrem viel Kapital bzw. Geld floß auf Grund der durch die einheitliche Währung künstlich erzeugten Sicherheit bzw. Kreditwürdigkeit in die südeuropäischen Kapitalmärkte und mit der damals vorherrschenden Meinung, dass Staaten nicht in die Insolvenz gehen können, wurden Kredite möglich, die keinerlei realwirtschaftliche Entsprechungen rechtfertigten. Private wie staatliche Schuldenstände wuchsen bis zum Beginn der US-Finanzkrise zu inflationären Blasen, die dann nach 2008 und mit der sog. EURO-Krise auf hohem Schuldenstandniveau platzten. So hoch, dass private wie institutionelle, kommunale wie staatliche Schuldenstände sich zu gigantischer Höhe aufaddiert hatten.

Die EZB gab zuerst ein allgemeines bedingungsloses Schutzversprechen gegenüber den südeuropäischen Ländern ab, was eine Spekulation in diese Richtung verhinderte bzw. wenig aussichtsreich machte, da private Spekulanten auf Währungen z.Bsp. mit der die Spekulation auf notleidende Staaten immer anfängt, kaum Aussicht auf größere Renditen versprach. Dazu summierten sie nicht unerhebliche Kredite sowie stattlich gefüllte, europäische Rettungsschirme, die auch nichts anderes sind, als ein anderes Wort für Kredite, nur so benannt besser ins politische Vokabular, besonders in Wahljahren passt.

Mit diesen zentralen Maßnahmen konnte die Staatspleite von Griechenland bislang nominell verhindert und die italienische real aufgeschoben werden. Was aber bei aller Bemühung der Staaten ihre selbstverschuldeten Schuldendienste zu erfüllen – von Schuldenabbau ist keine Rede – und, à la longue, den Staaten irgendwann wieder den Zugang zu den privaten Kapitalmärkten zu ermöglichen gleichsam konterkarierend als ‚Mitnahmeeffekt‘ zu verzeichnen ist, ist, dass in fast allen Krisenländern der EURO-Zone die Schuldenquoten1 munter weiter anstiegen, da diese „Rettungspolitik“, also Schuldenübernahmepolitik den privaten Investoren die Fortsetzung ihrer Schuldenkalküle auch weiterhin ermöglichte.

Man mag das Keynsianismus nennen, aber in der Sache haben wir es hier ja nicht mehr mit „normalen“ Marktprozessen zu tun. Denn die Jahre nach 2008 waren gekennzeichnet von einem fortgesetzten Kapitaltransfer in die südeuropäischen Länder, der eigentlich hätte in Deutschland verbleiben müssen, da hier die Wirtschaft deutlich anzog und die Schuldenquote abnahm. Aber Kapitalströme „denken“ anders.

Im Ergebnis stieg mit dem Abzug von Kapital aus dem deutschen Wirtschaftskreislauf der deutsche Leistungsbilanzüberschuss bei gleichbleibender Kaufkraft2, ohne, dass die deutsche Volkswirtschaft hierzu ihren alleinigen bzw. überwiegenden Anteil beigetragen hätte. Gleichzeitig stieg die Sparquote3 wieder an nach einer Zeit des Rückgangs seit der Finanzkrise. Da der Abfluss erheblichen Kapitals von Deutschland nach Südeuropa kein normaler, sondern ein, durch die EZB und somit letztlich durch die Politik des Europarats angestoßener Kapitalprozess war, ist die Aufforderung der US-Administration wie des IWF, Deutschland möge mehr investieren blanker Unsinn. Die, weniger zu sparen, noch größerer Unsinn, da sie einerseits die ins Prekäre wachsende Altersversorgung in Deutschland nicht berücksichtigt und auch einer formelhaften volkswirtschaftlichen Auffassung folgt, dass, wenn in einem Land weniger gespart, der Export von Waren aus einem anderen Land bzw. der Import steigen würde.

Schaut man auf die Importquoten der europäischen Staaten, dann ist die deutsche mit 38,4% höher als die Frankreichs (31,2%) und die Großbritanniens (30,1%). Die Importquote nach dem Außenhandelskonzept in Deutschland von 1991 bis 2016 zeigt nicht überraschend einen 4,5%igen Rückgang in 2009, der aber bereits 2010 fast kompensiert war, bereits in 2011 ein Allzeithoch verzeichnete und in den Jahren danach auf kontinuierlich hohem Niveau sich bewegt.

Gleichwohl diese statistischen Zahlen u.E. wenig über die tatsächlichen Handelsbeziehungen und über Ursachen ihrer Bewegungen aussagen, zeigen sie doch im Verlauf eines Zeitraum, der vor der Finanzkrise beginnt bis heute, dass einfache volkswirtschaftliche Rechnungen hier kaum mehr möglich sind. Z.B. hat sowohl das Export- wie das Importvolumen Italiens bei den Haupthandelsgütern trotz hoher Staatsverschuldung das Niveau der Vorkrisenjahre gehalten und auch übertroffen, wobei Deutschland seit 2002 auch bei den Importen aus Italien stets den ersten Rang innerhalb der EU-Länder einnimmt.

Dass wir es hier mit einem für die deutsche Volkswirtschaft sehr unliebsamen Kapitalmarkteffekt zu tun haben, indem Deutschland seine Exporte gleich selbst finanziert, also etwa Italien deutsche Waren auf Pump mit aus Deutschland abgeflossenen Geldern importiert, dürfte sich allmählich auch in den USA und beim IWF herumsprechen.

Deutschland profitiert also nicht von seinem deutlichen Leistungsbilanzüberschuss. Im Gegenteil. Der große Überschussanteil ist hauptsächlich gebildet aus staatlichen „Schuldscheinen“, die, aufgrund derselben EZB Politik, die diese Überschüsse in der Art von schuldhaften Verbindlichkeiten erzeugt hat, verhindert, dass solche Schulden wie üblich auch verzinst werden.

Würde man übliche Standards ansetzen und den Zins, wie in alten Zeiten als eine geldwerten Ausdruck der Schuldentragfähigkeit des Schuldners gegenüber einem Gläubiger definieren, dann lägen die Zinsforderungen Deutschlands gegenüber Italien im hohen einstelligen, wenn nicht gar im zweistelligen Bereich. Denn zu dieser Art der Refinanzierung kommt noch, dass die Rückzahlung der italienischen Schulden durch Italien bei der derzeitigen Staatsschuldenquote sehr unwahrscheinlich ist und wenn überhaupt wahrscheinlich über einen Zeitraum, länger als 25 Jahre prolongiert werden muss. Das aber wird nicht passieren.



Pleite durch Arbeit


Ein Utilitarist ist einer, der etwas zu seinem eigenen Nutzen tut. Das scheint in heutigen Zeiten durchaus eine smarte Einstellung zu sein, wenig unklug also noch unclever. Und warum sollte ein auf seinen Nutzen fixierter Mensch etwas ändern, wenn sein Nutzen mit jeder seiner Handlungen steigt?

Bei dieser Bestimmung von Utilitarismus geht man davon aus, dass das Verhalten des Utilitaristen auch rational ist, dass er also weiß, was für ihn von Nutzen ist, aber das ist nicht immer und in Geldangelegenheiten eher selten der Fall. Besonders, wenn es sich um den EURO handelt. Wir haben eben gesehen, dass die deutsche Wirtschaft ihre Exportblüte zur Zeit der lockeren Geldpolitik der EZB verdankt mit dem Nachteil, dass die auf Pump gekauften Waren auf deutscher Seite zu Forderungen geführt haben, von denen der Michel nicht weiß, ob sie überhaupt und durch wen und wann letztlich gedeckt sind und beglichen werden.

In der realen Wirtschaft kennt man seine Kunden einigermaßen, selbst im internationalen Geschäfts- bzw. Warenverkehr. Was die EZB macht, versteht sie teilweise selber nicht, der deutsche Michel bestimmt nicht. Wenn man nun den deutschen Erwerbstätigen heute sagen würde, dass die gepriesene Beinahe-Vollbeschäftigung, der private Wohlstand wie auch der Leistungsbilanzüberschuss Deutschland stetig näher in den Staatsbankrott treibt, würde man wahrscheinlich nur mitleidiges Kopfschütteln ernten; aber dem ist so.

Mit der sog. EURO-Rettungspolitik der EZB sind nicht nur gigantische Bilanzrisiken bei der Deutschen Bundesbank, den sog. Target-Salden, entstanden, deren Zuwachs von heute ca. 500 Mrd. Euro auf jährlich weitere 200 Mrd. EURO beziffert werden, sondern ein strukturelles Risiko. Dieses strukturelle Risiko besteht darin, dass weder Deutschland noch die EZB, ganz zu schweigen von den Gläubiger-Ländern wie Italien und Griechenland, etwas an den katastrophalen Zuwächsen der Target-Salden ändern können. Politik hat sich selbst in Geiselhaft genommen.

Helmut Schlesinger, ehemals Präsident der Deutschen Bundesbank, heute im Ruhestand, hat 2016 eine Diskussion ausgelöst, die, nachdem Hans-Werner Sinn, ehemals Chef des ifo-Instituts sich den Salden genauer gewidmet hat, ein Problem hat sichtbar werden lassen, hinter dem einmal mehr ein gewisser wissenschaftlicher Offenbarungseid zutage trat, da auch bezüglich der Target-Salden die Ökonomik keinerlei Ahnung sich frühzeitig verschafft hat und zum anderen ein politischer Offenbarungseid, der leider von weiterer Tragweite ist als der wissenschaftliche und von exorbitanten Folgen.

Schon 2010 standen in den Tabellenanhängen der Monatsberichte der Deutschen Bundesbank Forderungen gegenüber anderen Notenbanken des Euro-Systems von damals mehr als 300 Milliarden Euro, fast das 20-Fache dessen, was vor der Finanz- und Euro-Krise unter diesem Punkt verbucht worden war. Sinn forschte nach und kam zu dem Schluss, die Bundesbank leiste versteckte Krisenhilfe, die sich jeder demokratischen Legitimation entzieht und die das Zeug zu einem nicht mehr einholbaren Sekundäreffekt der EZB hat, die das gesamte europäische Finanzsystem in den Ruin führt; also geradezu das Gegenteil von dem bewirkt, wofür es erfunden und heute durchgeführt wird.4

Im Kern geht es darum, dass diese Target-Salden heute zu Kontokorrentkreditkonten geworden sind, die Deutschland anderen EU-Ländern gewährt und die, ohne jede Ausfallsicherheit und Zins zum Damoklesschwert der deutschen Zahlungsbilanz geworden sind: „Wenn die Länder, deren Banken die Kredite gegeben wurden, zahlungsunfähig werden, haftet Deutschland. Es tun sich Abgründe auf.“5

Deutschland und die EZB fanden sich plötzlich gemeinsam wider Willen in einem Boot sitzen, das seit seiner Fertigung unterhalb der Kiellinie ein riesiges Loch versteckt. Die Target-Salden waren von Beginn an unbegrenzt und auch wenn es anfangs noch half, die damit zusammenhängende Probleme durch kleinreden fast unsichtbar zu machen, sind die jetzt aufgefallenen Summen dann doch zu sichtbar geworden und deuten auf ein Problem, das man fast schon ein Perpetuum Mobile nennen kann.

Denn die lockere Geldpolitik treibt die Target-Salden stetig weiter in die Höhe und verringert so die Reformanreize für die Krisenländer, die doch nötig sind, um zu ausgeglichenen Salden durch Wirtschaftsreformen und strikte Ausgabenvernunft zu kommen. Von Wirtschaftsreformen ist nicht viel zu sehen und Ausgabendisziplin ist ein zusammengesetztes Wort, dessen zweiter Teil auch in den südeuropäischen Politik-Lexika wie in allen anderen in der EU nicht vorkommt.



Arbeit im Saldo minus


Warum sind die Salden so dramatisch angestiegen?

Wie vorher bereits dargelegt, brach im Zuge der Finanzkrise der Interbankenmarkt zusammen. Zuerst merkten das die Bank in Südeuropa, die von den Banken im Norden wegen des Misstrauens gegenüber deren Bilanzrisiken kein Geld mehr bekamen. So liehen sich die Banken im Süden Geld bei der EZB und um das Überlaufen der Finanzkrise auf den EURO und die EU durch Währungsspekulationen u.a. zu verhindern, sprach deren Präsident die unbegrenzte Versorgung mit Notenbankgeld aus.

Unbegrenzte Kreditausgabe aber heißt, dass die Notenbank ihre Kontrolle über die Zentralbankgeldschöpfung an die Geschäftsbanken in der Folge unwillkürlich delegiert hat und es mutet schon ein wenig rätselhaft an, dass heute, fast acht Jahre danach, eine wissenschaftliche Diskussion über die Geldschöpfung der Banken losbricht, in der sich Mainstream-Theoretiker mit Herterodoxen bekämpfen.

Was anscheinend die Volkswirtschaft insgesamt erst seit kurzem zu verstehen beginnt, hat einen anderen Aspekt, der früher und für alle aber im Fokus stand: die Qualitätsanforderungen an die Sicherheiten, die Banken zur Ausgabe von Krediten stellen. Die tendieren mitteilenswert gegen Null, wie ebenso der wissenschaftliche Protest schon damals, als er dringend indiziert war. Kamen früher nur erstklassige Staatsanleihen als Sicherheiten in Frage, reichen mittlerweile selbst drittklassige. Und damit nicht genug. In der Mitte 2017 stellte die EZB den nationalen Zentralbanken im Rahmen eines summierten Leihgeschäfts von mehr als 530 Mrd. EURO sogar frei zu entscheiden, welche Sicherheiten sie von den Kreditnehmern akzeptieren, so dass bei der Vergabe von Zentralbankgeld einfache Unternehmenskredite, ohne ausreichende Risikobewertungen oder Eigenkapitalleistungen der Kreditnehmer nun via Banken aus den sog. europäischen Peripherieländern in den Büchern der Zentralbank schlummern.

Für die erste Bewertung des Leistungsbilanzüberschusses der deutschen Exportwirtschaft, was auch für andere EU-Länder gilt, lässt sich daher festhalten, dass die Arbeit, die diese Güter geschaffen hat, zugleich an der Schaffung von riesigen Target-Salden zu ungunsten einiger „Kernländer“ der EU teilhat. Für die Zukunft der EU ist wesentlich weiterhin festzuhalten, dass die Geldpolitik sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Renationalisierung befindet, damit und mit der Lockerung bzw. gänzlichen Aufgabe der Sicherheitsanforderungen sind die Banken in den Krisenländern in der Lage, von den nationalen Zentralbanken wie aus einem Geldautomaten ohne Limit Zentralbankgeld zu ziehen, mit dem sie die Importüberschüsse ihrer Länder finanzieren. Diese Art der Finanzierung ist eine Vergemeinschaftung von Kreditrisiken, die durch den politischen Diskurs in eine Art Verschleierung der tatsächlichen Strukturen in der EU gegenüber dem Wähler mündete.



Kapitalflucht in den Krisenländern


Die EZB-Politik hatte ein weiteres Problem zur Lösung, die stets in Staatsfinanzkrisenzeiten aufkommende Kapitalflucht privater Anleger. Aus Griechenland allein sind seit 2009 ca. 16 Mrd. EURO abgezogen worden, aber auch aus Spanien, Italien und Irland flossen private Vermögen in erheblichem Maße ab. Und da diese Transfers ebenso über die Target-Konten der EU fließen, hat sich der Negativ-Saldo der Länder weiter vergrößert. Insgesamt beläuft er sich auf stattliche 800 Mrd. EURO in 2017, wovon allein 500 Mrd. EURO als Forderungen der Bundesbank zu Buche stehen. Spanien und Italien halten jeweils etwa 180 Mrd. EURO an Verbindlichkeiten.

Wie wir sehen konnten, sind nicht die absoluten Höhen der Verbindlichkeiten die zentrale Gefahr, sondern die Risiken, die in diesen Krediten verborgen sind. Und diese verborgenen Risiken, von denen mittlerweile niemand mehr weiß, wann und wie sie in der hoch vernetzten Bankenstruktur der EU offenbar werden, führen zu erheblichen politischen Konsequenzen. Denn diese Schuldenstände sind solange verborgen, wie die Währungsunion hält und kein Land mit der EURO-Währung diesen Verbund verlässt. Da das Vereinigte Königreich nicht zur EURO-Zone gehörte, war der Brexit auch kein Problem für die Target-Salden. Nur wenn ein EURO-Land pleite geht und den EURO verlässt, wird es teuer.

Die Bundesbank hat z.Z. etwa 500 Mrd. an Forderungen gegenüber dem EURO-System. Existierte dieses System nicht mehr, entstünde ein Abschreibungsverlust von saldiert etwa 370 Mrd. EURO, was auch für die Bundesbank jetzt schon eine hohe Hausnummer wäre und somit der deutsche Staat, also die Bürger dieses Staates zur Begleichung herangezogen werden müssten.

Je höher die Target-Forderungen, desto bedrohlicher die Perspektive

Nach der Berechnung von Hans-Werner Sinn steigen derzeit die Salden jährlich um 200 Mrd. EURO, so dass etwa 2022/23 eine Summe von 1,5 Billionen EURO erreicht wird, die dann bei einem Auseinanderbrechen des EURO-Raumes auch vom deutschen Staat nicht mehr ausgeglichen werden könnte, ohne selbst bankrott anzumelden. Anders gesagt: Deutschland ist bereits bankrott bzw. müsste Insolvenz anmelden, legte man die Paragraphen des privaten Insolvenzrechtes an die deutschen Staatsbilanzen. Im deutschen Falle wäre der Insolvenz voraussichtlich noch mit einer Währungsreform zu begegnen, bei der aber heute niemand weiß, um wieviel das private Vermögen entwertet würde, da ja auch in Deutschland viele Anleger und Sparer frühzeitig ihr Vermögen in ausländischen Währungen in Sicherheit bringen würden.

Die Antwort des Staates auf diesen Zustand ist Prolongieren bzw. Stundung von Rückzahlungen der Target-Schulden auf den Sankt Nimmerleinstag. Rechnete man die hohen Ausfälle heute schon in die derzeitige deutsche Staatsverschuldung ein, dann stiege diese von ca. 80% des BIP auf fast 100% und dies hätte natürlich auch wieder Auswirkungen auf den Leistungsbilanzüberschuss wie auch auf die Kaufkraft. Aber auch hier gilt, die wesentlichen Risiken liegen nicht in diesem zwar durchaus möglichen, aber zunächst einmal nur vorgestellten Szenario, sondern in der konkreten strukturellen und so politisches Handeln leitenden Situation.

Mit Andauer dieser Saldenkrise wird eine Politik, die die Lösung daraus betreibt, immer unwahrscheinlicher, ja unmöglicher. Die EZB wie Deutschland können sich den Austritt eines EU Landes mit dem EURO als Währung schon heute nicht mehr leisten. Die Geldpolitik der EZB hat sich von jeder realwirtschaftlichen Grundlage so weit entfernt, dass die einstige Beziehung zwischen Notenbankpolitik und Realwirtschaft nicht mehr sichtbar hinterm Horizont der Schuldennavigation verschwunden ist. Italien, Frankreich, Spanien etc. kaufen Waren auf Pump und Deutschland als Hauptlieferant derselben verkauft sie letztlich auf Kredit und wird durch seine Regierung gleichsam asymmetrisch informiert, dass alles nur zum besten der deutschen Wirtschaft ist und irgendwann einmal alles wieder gut wird.

Alles umsonst?


Mit der stetigen Erhöhung der Target-Salden steuert Europa in eine Transferunion bzw. ist schon mitten darin. Das war nie im deutschen Sinne und steht auch mit keiner Zeile in den Maastrichter Verträgen; im Gegenteil. Die Frage, die an dieser Stelle aufkommt, ist die: haben die Unterzeichner der Maastricht-Verträge, allen voran Kanzler Kohl und die deutsche Regierung dieses Problem übersehen? Konnten sie wirklich davon keine Ahnung haben, was uneingeschränkte Kontokorrentkredite bei dem ein oder anderen Schuldner bewirken können?

Waren unsere Politiker zu phantasielos, sich das vorzustellen, was jeder Mensch aus den Erfahrungen seiner unmittelbaren privaten Umgebung weiß, dann käme das einem Offenbarungseid politischer Kompetenz gleich. Unterstellen wir aber genügend Erfahrung und Expertise – es gab ja auch einige warnende Stimmen – dann bleibt die Frage offen, warum Deutschland dem zugestimmt hat? Was wäre, wenn diese Zustimmung der Preis für die Einheit Deutschlands gewesen ist? Dem widerspricht aber, dass die EURO-Krise ja nicht nur Deutschland, sondern auch Länder wie die Niederlande und Finnland betrifft.

Heute, jedenfalls, ist die Lage unübersichtlich, was den Ausweg aus der strukturellen Schuldenkrise betrifft. Es bleibt bislang ein unbeschränkter Zugang der Kreditinstitute zu den Geldern der EZB, mit denen sowohl die Importüberschüsse, also der schuldenfinanzierte Wohlstand, als auch die Kapitalflucht der privaten Vermögen der Peripherieländer, also die Sicherung des vorhandenen privaten Wohlstands finanziert werden. Hinzu kommt, dass die Austeritätspolitik6 nicht greift, gleichwohl gerade jetzt vor den Bundestagswahlen eine Meldung nach der anderen vom sagenhaften Aufschwung der Wirtschaft und der Sanierung der systemrelevanten Banken in Italien und dergleichen in Griechenland und Spanien die Runde machen.

Tatsache aber bleibt, dass bei allem zur Schau gestellten Reformeifer die wettbewerbsrelevante Kennzahl der Lohnstückkosten sowohl in Italien als auch in Frankreich in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist, Spanien die Defizitziele notorisch verfehlt7, Frankreich dem in keinerlei Hinsicht nachsteht und die anvisierte Inflationsrate in den meisten europäischen Ländern, ausser in der BRD, von der Zielgröße meilenweit entfernt ist, gleichwohl die lockere Geldpolitik der EZB ihrem Ende langsam entgegensieht. In der Schule käme jetzt: eine Versetzung in die nächste Klasse ist gefährdet.

Was sicher ist, ist, dass Deutschland, die Niederlande, Finnland und m.E. auch Österreich dem Zuwachs der Target-Salden nicht tatenlos zusehen wollen; aber was können sie dagegen unternehmen? Weder ein Auseinanderbrechen der EURO-Zone noch ein Schuldenschnitt, keine Transferunion, kein Staatsbankrott und auch keine Erhöhung von Abgaben und Steuern in den sog. Geberländern wird aus der Schuldenkrise herausführen. Die nette Idee von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten ist sympathisch, zumal sie ja auch neuerdings von den Franzosen aufgewärmt wird. Aber nicht immer schmeckt Aufgewärmtes besser als frisch Gekochtes und wie im Topf das Charolais-Rind am nächsten Tag noch dasselbe ist, so bleiben die strukturellen Probleme der Schuldenkrise auf diesem Weg unangetastet.

So sind wir ab jetzt wie immer in solchen Situationen angewiesen auf unsere Vorstellungskraft und wissen, dass nach Stand und Lage der Dinge alle Möglichkeiten, die Target-Salden zurückzuführen, theoretischer Natur sind. Das ist nicht schlimm, es sei denn, wir bedienen uns in unserer Vorstellung Rezepten aus Omas Küche, die von den Errungenschaften des überregionalen Lebensmittelhandels wenig Erfahrung hatte. Und so kocht die Volkswirtschaft uns aktuell Gerichte, die allein schon bei der Lektüre ihrer Zusammensetzung wenig verdaulich erscheinen.

Bei wenig eigener Phantasie schauen wir gerne mal über den Teich; mal sehen, was die Amerikaner machen, sind die ja geradezu Meister im Schuldenmachen. Dort ist man zu der Lösung gekommen, dass jene Bundesstaaten mit negativen Target-Salden aus ihren Portfolios Staatsanleihen an jene Staaten mit positiven Salden übertragen. Und das jährlich. So halten die US-Staaten ein einigermaßen tragfähiges Schuldengleichgewicht und ein basales Vertrauen untereinander, was noch wichtiger ist.

Aber diese US-Modell ist nicht auf Europa übertragbar. Die EURO-Zone hat zwar eine einheitliche Währung, aber keine einheitliche auf einer zentralen Geldpolitik aufbauende Fiskalpolitik, was ein Grund u.a. dafür ist, dass sich die Staaten in Europa in dieser Situation überhaupt befinden. Würde man das US-Modell trotzdem auf Europa übertragen, hieße das, die Bundesbank würde von der griechischen Notenbank zum Ausgleich ihrer Target-Schulden ziemlich wertlose Griechenland-Bonds erhalten und es verwundert doch einigermaßen, wie solch ein Vorschlag auftauchen konnte und von einigen Ländern der EU bis heute noch als ein gangbarer Weg diskutiert wird. Selbst wenn darauf verwiesen wird, dass diese wertlosen Bonds ja in der Zukunft vielleicht einmal werthaft werden könnten, mutet er an wie ein religiöses Erlösungsversprechen, nur dass die Vorstellung vom Paradies darin verbindlich ist.

Sinn, dem das Verdienst der detaillierten Darstellung des Target-Problems zu verdanken ist, macht den Vorschlag, die Regierungen der Euro-Zone sollten staatliche Pfandbriefe ausgeben, die nach einheitlichen Kriterien mit Immobilien oder vorrangigen Ansprüchen auf künftige Steuereinnahmen des Emissionslandes besichert sind.8

Nachdem er einsehen musste, dass bei einem Auseinanderbrechen der Währungsunion die Bundesbank mit ihren Forderungen gegenüber einer griechischen Regierung steht, die auch dann weder Geld hat noch Lust verspüren dürfte, ihre Schulden zu begleichen, erweiterte er seine Idee um den Gedanken einer Verbriefung jener Staatsanleihen, um sie so handelbar zu machen.

Hätte er nur den nächsten Schritt auch noch gemacht, nämlich das ganze nun mit CDS, Credit Default Swaps, also mit verbrieften Kreditausfallversicherungspaketen noch zu hinterlegen, dann hätten wir komplett jenen Markt auferstehen sehen, der in Form von Hypothekenkrediten die Welt bzw. einige Volkswirtschaften schon einmal vor nicht all zu langer Zeit in eine tiefreichende Krise gestürzt hat.

Und was Sinn auch übersehen hat, ist, dass, wenn ein privater Investor in diesen Staatsschuldenmarkt überhaupt einsteigt, was sollte dann anderes passieren als im Falle von Argentinien, das von einer Gruppe von Gläubigern, angeführt von dem zum Elliott-Finanzimperium des US-Milliardärs Paul Singer gehörenden New Yorker Hedgefonds NML Capital in einer Art juristisch legitimierter Erpressung und Enteignung von Gemeineigentum in die Knie bzw. zum „Kompromiss“ vor den US-Gerichten gezwungen wurde.

Es ist richtig, dass die Beschlagnahme von Schiffen und anderem Staatseigentum den Pleitestaat Argentinien sogar von einer erkleckliche Summe seiner Schulden schlussendlich ‚befreit‘ hat. Das geschah aber, nachdem die Schuldentitel schon an sich wertlos waren, also Argentinien nach seiner Staatsinsolvenz eigentlich gerade dabei war, bei Null wieder anfangen zu können. Aus dieser Null haben Singer und Konsorten, „Holdouts“ genannt, noch erheblichen Gewinn gepresst.
Anstelle einer Insolvenz, bei der die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, ist die „Holdoutsgruppe“ den Weg gegangen, sehr preiswert fast wertlose Anleiheschulden aufzukaufen, um dann umgehend deren ursprüngliche Gesamtschuldhöhe vor US-Gerichten einzuklagen.

Argentinien weigerte sich über Jahre beharrlich, die von der ehemaligen Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner als „Aasgeier“ und „Finanzterroristen“ bezeichneten Hedgefonds auszuzahlen und nahm sogar ein Urteil aus den USA in Kauf, das untersagte, neues Geld bei Investoren einzusammeln und andere Gläubiger zu bedienen. So blockierte sie Argentinien vor einem neuerlichen Schritt auf die Finanzmärkte. Staatschef Mauricio Macri einigte sich nach Einsicht in die Aussichtslosigkeit bzw. dem double bind Zustand Argentiniens mit den Hedgefonds rasch auf einen Kompromiss.

Den Befreiungsschlag, durch den die gerichtliche Zahlungs-Blockade gelöst und der Weg zurück an die Märkte geebnet wurde, musste sich Argentinien aber einiges kosten lassen. Die Holdouts Hedgefonds wurden letztlich wesentlich besser gestellt als die Gläubiger, die die Umschuldungen der Jahre 2005 und 2010 akzeptierten. Sie mussten im Schnitt über 70 Prozent ihrer Forderungen abschreiben, während Singer und Konsorten ordentliche Renditen einstrichen.



Danse macabre


Peter Bofinger, ehemaliger Wirtschaftsweiser, nimmt reißaus bei der Einladung seines Kollegen Sinn zum Tanze um die Target-Salden:
„Hans-Werner Sinn hat in seinem Gastkommentar vom 24. Juli das Patentrezept für den Abbau des deutschen Leistungsbilanzüberschusses gefunden. Südeuropa und die USA müssten endlich zu einer Politik der Schuldendisziplin zurückkehren. Zugleich sollte die lockere Geldpolitik in den USA und in Europa beendet werden. Die Defizitländer fordert er auf, die Löhne zu senken, mehr zu sparen, weniger zu konsumieren oder weniger zu investieren. Das wäre in der Tat eine effektive Therapie zum Abbau des deutschen Leistungsbilanzüberschusses. Folgten die Regierungen und Notenbanken dem Rezept von Sinn, käme es aller Wahrscheinlichkeit zu einer Weltrezession.“9

So übertrieben dies erscheint, so wenig unwahrscheinlich sollte man dieses Szenario erachten. Was heute lebende Ökonomen sich ausdenken, sei es bei der Analyse der Ursachen der Krisen zu Beginn des neuen Jahrtausends wie auch zu deren Lösung, lässt einem aber dann schon den Atem stocken. Hans-Werner Sinn jedenfalls scheint Gefallen gefunden zu haben, sich vom Tod zum Tanz bitten zu lassen:

„Die Ökonomie kollabiert, die Immobilienpreise fallen, die Währung wertet ab, Firmen gehen in Konkurs. Grundstücke, Fabrikgebäude, Wohnhäuser und nicht zuletzt Arbeitskräfte werden frei. Bei niedrigen Preisen, einem niedrigeren Wechselkurs und günstigen Arbeitslöhnen steigen wieder neue Investoren ein, die neue Firmen mit neuen Geschäftsideen aufbauen. Nach der ’schöpferischen Zerstörung‘ setzt eine neue Gründerzeit ein.“10

Die etwas spinnerten Ideen von einer disruptiven Kraft, mit der mehrheitlich junge Menschen in Garagen und auf dem Campus in Palo Alto der etablierten Wirtschaft die Leviten lesen möchten, hat Sinn nun zu einer überlebensgroßen Idee der Erneuerung hypostasiert, einem exzessiven Keynsianismus, der den Erneuerungsprozess der realen wie seiner theoretischen Ökonomie als ein Nachkriegsszenario der deutschen Nation nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern lässt. Sind das Gedanken eines Endspiels von Wirtschaft und Ökonomik? Wo einer auf etwas wartet, auf Godo, der aber nie kommt? Delirante, halluzinative Endzeitstimmungen weisen immer auf ein nahes, eschatologisches Ende einer großen Idee, wie dies einst Europa für viele war.

Auch die Idee einer Wissenschaft, deren Innerstes das Verständnis wirtschaftlicher Vorgänge ist, kann daran verzweifeln, dass die Dinge einfach nicht so sein wollen, wie sie klar und berechenbar gedacht sind. Für Sinns Gegenspieler, Peter Bofinger, wird die „schwarze Null“ zum phantasmatischen Abgrund, um die die Hoffnung tanzt, die Sinn mit ihr verbindet, hinab stürzen sieht.

In der Tat, für die „schwarze Null“, also einen durch rationales Geldmanagement ausgeglichen Haushalt zwischen Bruttowertschöpfung und staatlichen Investitionen gibt es keine wissenschaftliche Begründung, allenfalls ein naives Märchen von der schwäbischen Hausfrau, die nur ausgibt, was sie an Haushaltsgeld vom Mann oder durch eigene Erwerbsarbeit erwirtschaftet zur Verfügung hat. So erklären uns mithin unsere Finanzpolitiker der ersten Reihe ihre Idee stattlichen Haushaltens wohl wissend, das die Wirklichkeit damit nichts, aber auch nicht das geringste zu tun hat. Die Alternative zwischen Weltrezession und schwäbischer Haushaltsdisziplin ist in Wahrheit keine wie der Satz: Geld oder Leben nimmt am ihn grundsätzlich.

So entgeht Bofinger zwar dem Phantasma der schwarzen Null und dem volkswirtschaftlichen Reigen um sie herum, aber seine, am IWF orientierte Therapie, Deutschland möge mehr investieren und konsumieren, zeigt den gleichen Mangel volkswirtschaftlichen Denkens wie bei seinem Kontrahenten. Da wird gerechnet und in Beziehung gesetzt, was gar nicht wirklich zur Debatte steht. Es ist richtig, dass eine vorausschauende Fiskalpolitik notwendige öffentliche Investitionen über Kredite finanzieren kann, zumal in einer Zeit der Niedrig- bis gar Minuszinsen.

Es ist richtig, dass politische Institutionen bei ihren Investitionsentscheidungen auch die Entwicklung der Staatsschuldenquote, also das Verhältnis von öffentlichen Schulden zur Wirtschaftsleistung im Auge behalten müssen, liegt in diesem Verhältnis ja, so die Datenerfassung dieser Big Data Aussagen zuverlässig, valide und objektiv ist, ein Ausblick auf die Wertentwicklung einer Volkswirtschaft für die nahe und mittelfristige Zukunft.

Im Falle von Deutschland, so haben wir gesehen, ist diese Quote bei 68% angekommen und, folgt man der Berechnung Bofingers, bei einem „unterstellten Wachstum des nominellen Bruttoinlandsprodukts von drei Prozent wird diese Relation bis zum Jahr 2040 auf 33 Prozent sinken.“11 Da macht es wenig Sorgenfalten im Gesicht, wenn der Staat seine investiven Ausgaben um 1% oder ca. 30 Mrd. EURO/p.a. steigert, was die Schuldenquote im gleichen Zeitraum auf 50% erhöht, also immer noch unter dem heutigen Wert beließe. Das klingt ein wenig wie die Gespräche in der schwäbischen Küche, wie man Schulausflüge, Handies, Klamotten, Tablets etc. der süßen Kleinen finanzieren soll, wenn Papa sich gerade einen Straßenräumpanzer in X5-Format zulegen will.

Rein rechnerisch könnte Bofinger aber auch schnell dahinter kommen, dass bei einem Zuwachs der Target-Schulden von 200 Mrd. jährlich auf der Sollseite und mit 30 Mrd. auf der Habenseite beide Seiten kaum jemals ausgeglichen werden können. Dazu kommt aber wesentlich, dass in dieser Rechnung der unangenehme Ausgangszustand auch weiterhin bestehen bleibt, dass nämlich südeuropäische Haushalte darüber letztlich entscheiden, wann in Deutschland, Finnland und den Niederlanden in Bildung investiert werden soll, wann dort der private Konsum belebt werden muss und in welcher Höhe und Tempo. Würde Deutschland nach der Bundestagswahl 2017 damit beginnen, die Target-Salden mit dem Bofinger-Modell auszugleichen, dann würde es wohl bis ins Jahr 2080 dauern, selbstverständlich bei bis dahin gleichen Anleihezinsen wie heute und konstantem Schuldenverhalten der Peripherieländer.

Tanzt der eine Volkswirt um die dumme Kuh der Austeritätspolitik, dann bittet gleich ein anderer zum Hüftschwung um das goldene Flies des Konsums. Führe man so Auto, in schnell abwechselnden Phasen von Vollbremsung und Vollgas, die Kiste flöge einem wohl schnell um die Ohren.



Anmerkungen:

1 Staatsschuldenquote: Kennzahl, die das Verhältnis zwischen den Staatsschulden und dem nominalen Bruttoinlandsprodukt eines bestimmten Staates ausdrückt.
Gemäß der Maastricht-Kriterien darf die Schuldenquote der Euro-Mitglieder einen Wert von 60 Prozent nicht überschreiten. Deutschland erreicht 2016 eine Schuldenquote von 68,3 Prozent nach Maastricht-Vertrag. Frankreich 96%, Vereinigtes Königreich 9,3%, Österreich 84,6%, Italien 132,6%
Nominales und reales BIP:
Die mit der Inflation verbundenen Preissteigerungen kommen beim nominalen BIP nicht zum Tragen und erscheinen als Wirtschaftswachstum. Vor allem beim Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern kann es dadurch zu erheblichen Verzerrungen kommen, da die Inflation in Entwicklungsländern meist stärker auftritt.
Das reale Bruttoinlandsprodukt gibt wesentlich genauer Auskunft über die Wirtschaftsleistung und Wertschöpfung eines Landes im Vergleich zu anderen, da dieses unabhängig von Preisveränderungen anhand der Marktpreise eines Basisjahres berechnet wird. Voraussetzung dafür ist, dass die Preissteigerungsrate seit dem Basisjahr bekannt ist. Das reale Bruttoinlandsprodukt erhält man, wenn das nominale Bruttoinlandsprodukt durch den Preisindex dividiert und mit 100 multipliziert wird.

2 Unter Kaufkraft versteht man das nominal verfügbare Nettoeinkommen der Bevölkerung inklusive staatlicher Transferzahlungen wie Renten, Arbeitslosen- und Kindergeld. Einerseits werden durch wachsende Löhne in vielen Branchen und die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt steigende Einkommen erwartet, was sich positiv auf die Kaufkraftentwicklung auswirkt. Andererseits wuchs die Einwohnerzahl Deutschlands von 2015 auf 2016 um 1,2 Prozent. Daraus ergibt sich das Phänomen, dass die Kaufkraftsumme Deutschlands um 2,9 Prozent deutlich wächst, aber die pro-Kopf-Kaufkraft mit +1,7 Prozent nur moderat steigt. Wie viel vom nominalen Kaufkraftzuwachs real übrigbleibt, hängt von der Entwicklung der Verbraucherpreise in 2017 ab.

3 Im Jahr 2016 betrug die Sparquote privater Haushalte in Deutschland rund 9,7 Prozent. Die Sparquote der privaten Haushalte in Deutschland stellt den gesparten Anteil des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte (zuzüglich der Zunahme betrieblicher Versorgungsansprüche) dar. Die Ergebnisse basieren auf der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) des Jahres 2014. Laut Quelle werden in den VGR die wirtschaftliche Betätigung aller Wirtschaftseinheiten erfasst, die ihren ständigen Sitz bzw. Wohnsitz im Wirtschaftsgebiet haben (Inlandskonzept).

4 Vgl. WirtschaftsWoche,31. Juli 2017: Target-Salden drängen Deutschland an den Abgrund vom 05.03.2012.

5 Sinn, ebenda

6 Austeritätspolitik meint im Kern eine restriktive Fiskal- und Sparpolitik. Der Begriff wird vor allem in ökonomischen Zusammenhängen gebraucht und ist eine Bezeichnung für eine strenge staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Verringerung der Staatsschulden anstrebt.

7 Statt mit 3,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) wird Spanien 2017 mit einem Defizit von 3,5 Prozent schließen. Das ist zwar besser als 2016, als es 4,7 Prozent waren, aber nicht gut genug. 2018 dürfte sich die Lage weiter eintrüben (2,9 Prozent statt 2,2 Prozent). Einnahmen- wie ausgabenseitig muss die rechtskonservative Minderheitsregierung unter Premier Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) unter dem Strich elf Milliarden Euro mehr aufbringen - in derstandard.at vom 15. Februar 2017

8 Sinn, ebenda

9 Peter Bofinger in Handelsblatt print: Nr. 147 vom 02.08.2017 Seite 048 / Gastkommentar

10 Hans-Werner Sinn - in "Wirtschaftswoche", 6. September 2016

11 Peter Bofinger, ebenda



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